Der Irrenhausdirektor und die Sommervögel
Vom Verschwinden unserer Tagfalter
Hiobsbotschaften sind bei Journalisten und Lobbyisten gleichermassen beliebt. Krisen schaffen Aufmerksamkeit, garantieren Publikum, sichern Pfründe. Die Nachrichten von der Front des Insektensterbens häufen sich nun schon seit etlichen Jahren. Biologen sagen zwar, es gäbe weit über eine Million Arten von Insekten auf der Erde. Man könnte aber auch sagen, dass es bloss zwei Arten von Insekten gibt. Denn in unserem Urteil sind die Sympathien, was Insekten betrifft, klar verteilt: Auf der einen Seite sind Tiere wie Stechmücken, Filzläuse und Kakerlaken des Teufels. Und auf der anderen Seite sind Marienkäfer, Bienen und Schmetterlinge allseits beliebt. Entsprechend sind Insekten der zweiten Gruppe vorteilhafte Objekte für Erhebungen mit einer Naturschutzabsicht. Werfen wir hier also einen Blick auf die vielleicht beliebtesten Kerbtiere überhaupt: Was haben die Sommervögel uns zum Zustand von Natur und Landschaft zu sagen?
Mit Fahrrad und Schmetterlingsnetz auf Insektensafari: Friedrich (Fritz) Ris war ein unermüdlicher Sammler und seine überlieferten Felddaten dienen heute als wissenschaftliche Grundlage für faunistische Vergleiche. Bild: Staatsarchiv Schaffhausen.
Dr. med. Friedrich Ris, Mitglied unserer Naturforschenden Gesellschaft seit 1892, trat kräftig in die Pedalen. Der Föhn hatte vielversprechendes Sammelwetter gebracht und so kämpfte er guten Mutes auf seinem Velo gegen den Südwind an, um die fünf Kilometer bis an die Thurauen bei Flaach – an der Mündung der Thur in den Rhein – zurückzulegen. Seine sechsbeinigen Steckenpferde dienten ihm als Ausgleich für einen äusserst fordernden Berufsalltag: Zwischen 1898 und 1931 war er Direktor der kantonalen Heilanstalt Rheinau im Zürcher Weinland. Auf seinen kleinen Fluchten besuchte er über Jahrzehnte hinweg immer wieder gern das faunistisch reichhaltige Auengebiet an der Thurmündung und führte ein Tagebuch über die dabei beobachteten und erbeuteten Arten. In einem verhältnismässig kleinen Gebiet konnte er so 80 Tagfalterarten nachweisen—in der gesamten Schweiz gibt es etwa 200 Arten. Jahrzehnte nach seinem Tod an einem Herzschlag wurde die Erhebung wiederholt und man fand dabei lediglich noch 53 Arten. Was hatte sich inzwischen in den Thurauen abgespielt? «Welch entsetzliches Gewässer! Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.» Wie Goethes Zauberlehrling unterschätzen wir nur allzu oft die unbeabsichtigten Konsequenzen unserer Taten. Das Trockenlegen der unregelmässig überschwemmten Gebiete entlang der Thur reduzierte langfristig offenbar nicht nur die Stechmückenplage sondern eben auch die Tagfalterfauna.
Vor einigen Monaten starb der betagte Entomologe und beliebte ETH-Professor Willi Sauter. Da die Vielfalt an Insektenarten so überwältigend ist, müssen sich Insektenkundler in ihrer wissenschaftlichen Arbeit notgedrungen auf eine mehr oder weniger eng begrenzte Gruppe beschränken. Willi Sauters Spezialgebiet waren die Schmetterlinge. Und seine etwas ungewöhnliche Lieblingsfamilie waren dabei stets die Echten Sackträger (Psychidae), aber er kannte sich auch bei den vergleichsweise alltäglichen Tagfaltern sehr gut aus. Im Jahre 1987 gab er zusammen mit einigen eingefleischten Kollegen das grossformatige, prächtig illustrierte und noch heute lesenswerte Werk «Tagfalter und ihre Lebensräume: Arten – Gefährdung – Schutz» heraus. Im Kapitel über den Rückgang der Schmetterlinge in der Schweiz schreiben die Autoren, dass «heute im Mittelland rund hundertmal weniger Tagfalter fliegen als noch um die Jahrhundertwende.» Durch sein langes, einer bestimmten Insektengruppe gewidmeten Berufsleben wurde Willi Sauter so Zeuge eines Phänomens, welches man in der Naturschutz-Fachliteratur heute als Shifting Baseline Syndrome bezeichnet. Über die Jahrzehnte hinweg verliert der Mensch das Gefühl für die einst erheblich höhere Artenzahl in den verschiedenen Lebensräumen—und erst recht für die früher massiv höhere Individuenzahl. Der Prozess des Verlustes ist schleichend und damit besonders tückisch. Jüngere Biologen kennen aus ihrem eigenen Erfahrungshorizont heraus bloss noch die verarmte Natur und sehen diesen Zustand fälschlicherweise als Normalzustand an. Über Generationen hinweg gewöhnt sich der Mensch so an die biologische Krise. Das Zeitalter der vom Menschen dominierten Erde – das Anthropozän – hat aber längst begonnen.
Lügen, verdammte Lügen und Statistiken zur Lage der Arten
Der Mensch scheint sich aber nicht nur an die Krise sondern auch an litaneiartig wiederholte, alarmistische Weckrufe zu gewöhnen. Bereits vor über vier Jahrzehnten publizierte der 2019 verstorbene einflussreiche Umweltschützer Norman Myers seinen Sachbuch-Bestseller «The Sinking Ark», in welchem er sich insbesondere dem weltweiten Artensterben annahm. Er prophezeite darin, dass von den geschätzt 5–10 Millionen Arten, die 1979 auf der Erde existierten, eine Million aussterben würde—und zwar innerhalb von nur zwanzig Jahren bis Ende 1999. Heute ist die metaphorische Arche von Myers noch immer am sinken. Exakt 40 Jahre nach der Publikation seines Szenarios wurde 2019 im Global Assessment Report of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) wiederum die identische Warnung, wonach in den kommenden Jahrzehnten eine Million Arten akut vom Aussterben bedroht sind, betont. Auch in diesem Fall sind wir Zeugen eines wissenschaftlich gut dokumentierten Phänomens, der sogenannten Extinction Debt: Bis wirklich die letzten Vertreter von kritisch bedrohten Arten schlussendlich verschwinden und die Arten damit unwiederbringlich aussterben, z.B. aufgrund einer Verringerung der vorhandenen Habitatsfläche, dauert es oft unerwartet lange. Man muss also davon ausgehen, dass wir über Jahrzehnte hinweg eine riesige Aussterbeschuld anhäufen.
Um nun die Entwicklung der Tagfalterfauna schweizweit genauer verfolgen zu können, bedient man sich seit 2003 eines aufwändigen Monitorings. Das Tagfaltermonitoring ist Teil des übergeordneten Biodiversitätsmonitoring Schweiz (BDM). Dabei werden in 450 über das ganze Land verteilten Aufnahmeflächen durch Dutzende von Feldbiologen mit einer standardisierten Methode Vorkommen und Häufigkeit der Tagfalterarten erfasst. Von den 226 in der Schweiz dokumentierten Tagfalterarten (einschliesslich den tagaktiven Widderchen) wurden 187 im Verlaufe des Monitorings entlang von jeweils 2500 Meter langen und 10 Meter breiten Transekten erfasst. Auf 0,027% der Landesfläche wurden also 83% der Schweizer Tagfalterarten gefunden. Wie sich nun bei einer statistischen Analyse der einzelnen Arten zeigte, sind über die vergangenen 15 Jahre gesehen die schweizweiten Populationen der meisten Arten offenbar stabil geblieben. Wie zu erwarten war, schwanken die Populationen von Jahr zu Jahr manchmal beträchtlich infolge mutmasslicher Faktoren wie etwa der vorherrschenden Witterung oder dem Druck durch spezifische und ihrerseits variierende Fressfeinde, Parasiten und Krankheiten. Es zeigte sich aber auch, dass für jede Art, die über die gesamte Periode hinweg deutlich abgenommen hat – für die also statistisch ein negativer Trend festgestellt wurde – nicht weniger als gleich vier Arten signifikant zugenommen haben. Naturschützer geraten dadurch unerwartet in Erklärungsnot und bezeichnen solche Falter dann auch mal despektierlich als «banale Allerweltsarten» und «zugewanderte Fremdlinge». Bisweilen werden sie gar summarisch als «Klima-Profiteure» abgetan.
Arten sind keine Briefmarken—die Seltenheit bestimmt nicht ihren Wert
Das Biodiversitätsmonitoring wurde nicht für gesicherte Aussagen über die Entwicklung von besonders gefährdeten Arten konzipiert. Gibt es denn keine verlässlichen wissenschaftlichen Werkzeuge, um einen Rückgang dieser bedrohten Tiere und Pflanzen detailliert verfolgen zu können, damit rechtzeitig Schutzprioritäten gesetzt und vermeidbare Verluste abgewendet werden können? Dies war die Frage, die sich die vor einigen Monaten verstorbene britische Naturschutzbiologin Georgina Mace stellte. Sie und ihre Mitarbeitenden proklamierten darum im Jahr 1991 objektive und universell gültige Kriterien und Grenzwerte, damit Tier- und Pflanzen-Arten offiziell als gefährdet bezeichnet werden können. Bei Bedarf werden diese Arten zudem noch weiter in drei hierarchische Untergruppen aufgeteilt: Vulnerable, Endangered und Critically Endangered. Diese von der International Union for Conservation of Nature (IUCN) weltweit zusammengetragenen Arten werden in der sogenannten Red List publiziert und erhalten damit eine globale Schutzpriorität. Aber auch das schweizerische Bundesamt für Umwelt (Bafu) publiziert seit 1994 Rote Listen von schweizweit gefährdeten Arten als Vollzugshilfe für den hiesigen Naturschutz. Die aktuellste Rote Liste der Tagfalter und Widderchen wurde 2014 veröffentlicht. In der Schweiz gelten danach 35% der Arten als gefährdet. Im Idealfall kann damit gezielt auf akute Populationsrückgänge bestimmter Art hingewiesen werden, damit diese nicht unter dem Radar bleiben. Zum Glück sind aber längst nicht alle in der Schweiz gefährdeten Arten auch weltweit in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet bedroht; und viele dieser Arten stehen zudem aufgrund eines Seltenheitskriteriums – und nicht aufgrund einer Populationsabnahme – auf der Roten Liste. Nun lernt jeder Biologe aber gleich im ersten Semester seines Studiums eine der wenigen wirklich allgemeingültigen Beziehungen der Ökologie. Die unbequeme Wahrheit der üblicherweise als Relative Species Abundance, manchmal aber auch einfach kurz als Hollow Curve bezeichneten Beziehung, lautet schlicht: Viele Arten eines Gebietes – oft sogar die meisten – sind naturgemäss selten. Und es mag auf den den ersten Blick paradox erscheinen, aber gerade in artenreichen Regionen ist diese Beziehung ganz besonders stark ausgeprägt. So ist etwa im Primärwald Amazoniens der Anteil seltener Baumarten noch viel höher als im Mischwald des schweizerischen Mittellandes, und erst recht als in der Taiga Sibiriens.
Es scheint also, dass sowohl Rote Listen wie auch das Biodiversitätsmonitoring von ausgewählten Indikatorgruppen wie etwa den Tagfaltern als Werkzeuge im Kampf gegen die Biodiversitätskrise leider nur bedingt tauglich sind. Und unser Ideal von «unberührter» Wildnis – der Traum eines vielbeschworenen Gleichgewichtes in der Natur, wo jede seltene Art eine menschgemachte Aberration darstellt – hat wohl mehr mit kindlichen Erinnerungen aus zoologischen Gärten, mit spektakulären Dokumentarfilmen, wo hinter jedem Baum ein Jaguar zu lauern scheint, oder mit dem biblischen Bild der Arche Noah zu tun, als mit der biologischen Realität in der alles andere als statischen Natur.
- Marris, Emma (2011) Rambunctious Garden: Saving Nature in a Post-Wild World. Bloomsbury. 211 Seiten. [ETH Grüne Bibliothek]
- Monbiot, George (2014) Feral: Rewilding the Land, the Sea, and Human Life. University of Chicago Press. 319 Seiten. [ETH Grüne Bibliothek]