Die Fabel vom Honigdachs

Eine kurze Geschichte vom Geschichtenerzählen in Wissenschaft und Medien

Ist Ihnen auch schon aufgefallen, wie selten Gefässpflanzen, Algen, Flechten, Pilze und Mikroorganismen von unseren Medien portraitiert werden? Im Fernsehen gibt es für jede Sendung über Pflanzen & Co. dutzende mit einem Fokus auf Tieren, wo Pflanzen hauptsächlich als Dekor oder Nahrung für die Hauptprotagonisten dienen. Beim renommiertesten Wettbewerb für Naturfotografen – dem «Wildlife Photographer of the Year», der seit 1965 vergeben wird – dominieren Tierbilder in einem Masse, dass eine besondere Kategorie für Pflanzenfotos geschaffen werden musste, um diese vernachlässigten Lebensformen etwas zu fördern. Ob Honigbiene, Königspinguin oder Stachelschwein—das Storytelling-Potential von Tieren ist für uns Menschentiere naheliegenderweise deutlich grösser als das von pflanzlichem Leben. Und da es auch in den Wissenschaften kaum etwas Wichtigeres gibt, als eine gute Geschichte erzählen zu können, ziehen im Interesse einer informierten Öffentlichkeit sowohl Medienschaffende wie Naturwissenschaftler am gleichen Strick. Doch das frohe Geschichtenerzählen birgt auch Gefahren und kann aus dem Ruder laufen.

Charismatischer Frechdachs mit einer Schwäche für Süsses: Der Honigdachs ist ein Sympathieträger, um den sich Mythen ranken—nicht alle davon erweisen sich als fundiert. Bild: Wikimedia.

Eine breitabgestützte Initiative rollte im vergangenen Monat über die akademische Schweiz. Am 15. Mai veröffentlichte der Schweizerische Nationalfonds (SNF) ein Medienkurs-Angebot mit der Schlagzeile (und Aufforderung) «Wissenschaft muss raus in die Öffentlichkeit!». Am 25. Mai organisierte die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) in Bern ein Forum unter dem Titel «Die Wissenschaft braucht guten Journalismus!». Und schliesslich am 30. Mai veranstaltete die ETH in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) in Zürich ein Event zum Thema «Journalismus 4.0—Die Rolle der Medienschaffenden in Zeiten von AI, Big Data und Alexa». Eines dürfte bei all diesen Anlässen ausser Frage gestanden haben: Aufmerksamkeit gewinnt man nicht mit nackten Fakten. Oder wie es die Amerikaner auf den Punkt bringen: Good stories trump facts every time! Drei bestimmten Stilmitteln kommt dabei eine besonders wichtige Rolle zu.

Handlungen simulieren

Ein beliebtes weil inhärent konfliktbeladenes und dadurch spannendes Thema der Wissenschaftskommunikation im Bereich Tierverhalten ist der Kampf um die Nahrung und damit ums Überleben des Individuums. Guten Naturfotografen gelingt es, Geschichten aus der Natur in einem einzigen Bild zu «verdichten». Ein starkes Bild zeigt dabei oft drei Dinge: Was eben geschah, was jetzt in diesem Augenblick passiert und schliesslich was gleich passieren wird. Wie entstehen solche eindrücklichen Fotos? Es gibt die alte Fotografenweisheit, wonach man bereits zum Voraus eine möglichst genaue Vorstellung vom Bild, das man schiessen will, haben muss, damit man dies dann auch tatsächlich schiessen kann. Die beiden bekannten Naturfotografen José Luis Rodriguez und Marcio Cabral wussten jedenfalls beide ganz genau, was sie für ihre Kandidatur beim «Wildlife Photographer of the Year»-Wettbewerb abgelichtet haben wollten: Das hungrige Raubtier Wolf, das den Zaun einer Schafherde überspringt, beziehungsweise ein einsamer Ameisenbär auf der nächtlichen Suche nach Nahrung, der von leuchtenden Insekten zum Termitenbau gelotst wird. Aber die Natur spielte nicht mit—und so begannen die beiden Fotografen ihrerseits mit der Natur zu spielen. Ein zahmer Wolf und ein ausgestopfter Ameisenbär wurden für einen Fototermin in der Natur aufgeboten. Offenbar waren die beiden deutlich leichter zu einer bildhaften Szene zusammenzufügen als widerspenstige, eigensinnige Wildtiere, die sich öfters nicht an einen zurechtgelegten Plan halten.

Man kann nun sicherlich argumentieren, dass Beispiele wie diese beiden Fotos doch eigentlich harmlos sind. Die Bilder zeigen uns bloss, was wir bereits von der Natur wissen. Sie präsentieren lediglich auf spektakuläre Weise die alltägliche Realität: Ein Wolf als dynamisches Raubtier, ein Ameisenbär auf geduldiger Suche nach Termiten. Und abgesehen davon gibt es natürlich auch keine universelle Demarkationslinie zwischen echten und gefälschten Beiträgen. Während die beiden Fotografen beziehungsweise ihre Werke nachträglich von der Wettbewerbsjury disqualifiziert wurden, sind im Dokumentarfilmbereich gestellte Situationen gang und gäbe. So beginnt etwa der «Einstein»-Sendungsbeitrag zu einem Luchs im Kandertal (SRF, 27. April 2017) dramaturgisch sinnvoll mit Szenen eines vorgeblichen Aufspürens des Raubtieres durch den Wildtierforscher Sven Signer und den Moderator Tobias Müller mit Hilfe eines Peilsenders. Nachdem die beiden nach längerer Suche endlich Gämsspuren finden, gelingt es ihnen schliesslich das gerissene Beutetier des Luchses im Wald aufzuspüren. Doch einen Augenblick später folgt dann die «Ent-Täuschung» und der Fund entpuppt sich als vorgängig präpariert. Das Gämskitz war als Köder für den scheuen Luchs vorbereitet worden, um diesen mit einer installierten Fotofalle ablichten zu können.

Nachrichten inszenieren

Die Symbiose von Journalisten und Wissenschaftlern wird besonders augenfällig im Falle der Entdeckung der Tasaday im Regenwald von Mindanao. Die weltweite Berichterstattung in den 1970er-Jahren gilt inzwischen geradezu als Schulbeispiel für die problematische Beziehung von Wissenschaft und Presse, insbesondere für das Zusammenspiel von Medien und Starwissenschaftlern. Im Falle der Meldungen über das friedliche Höhlenvolk auf der Philippinen-Insel waren dies etwa die ehrfurchtgebietenden Verlautbarungen des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Obwohl es Ethnologen der Universität in der Hauptstadt Manila gab, die die Geschichte von Anfang an als elaborierten Schwindel brandmarkten, schenkte die Öffentlichkeit diesen weniger bekannten, lokalen Experten kaum Gehör. Es brauchte Jahrzehnte und namentlich auch den Einsatz von Investigativjournalisten wie Oswald Iten, der für die NZZ vor Ort recherchierte, bis schliesslich einige wichtige Handlungsfäden der vielsträngigen Inszenierung durch Politiker und einheimische Bevölkerungsgruppen langsam ans Licht kamen. Nach einer langen Aufarbeitungsphase mit interdisziplinären wissenschaftlichen Konferenzen und Debatten hat sich heute die Wahrnehmung der Tasaday-Geschichte weitgehend gewandelt. Von der Webseite der «National Geographic Society», welche ausführlich über diese vermeintliche Sensation berichtet hatte, sind inzwischen alle Spuren ins Archiv zur vergangenen Berichterstattung über die Tasaday gelöscht worden.

Anekdoten kolportieren

Manche Geschichten sind aber einfach so gut, dass sie immer wieder von neuem erzählt werden. Und nach einer gewissen Zeit mutieren Anekdoten schliesslich unbemerkt zum Faktum. Der fehlende Bezug zur Realität, oder mit anderen Worten zu einer grundlegenden Datenbasis, geht irgendwann scheinbar einfach vergessen. Der Honiganzeiger, mit wissenschaftlichem Namen Indicator indicator, ist ein ganz besonderer Vogel, wie offenbar bereits sein Erstbeschreiber und Namensgeber der Linnaeus-Apostel Anders Sparrman im ausgehenden 18. Jahrhundert wusste. Und was wir inzwischen alles über diese Art gelernt haben, ist denn auch wirklich erstaunlich: Der Vogel lässt spezielle Bakterien für sich arbeiten, um Bienenwachs verdauen zu können. Der Vogel lässt auch andere Vogelarten für sich arbeiten, um seine Jungen aufzuziehen. Und der Vogel lässt selbst den Menschen für sich arbeiten, um an seine Lieblingsnahrung zu gelangen. Wie der Zürcher Uni-Professor Uli Reyer 1989 in Zusammenarbeit mit einem afrikanischen Vogelexperten in einem Artikel der Zeitschrift «Science» beweisen konnte, lassen sich Honigjäger gewisser afrikanischer Savannenvölker tatsächlich mit einigem Erfolg durch den Honiganzeiger zu den begehrten Bienenwaben in hohlen Baumstämmen führen, die der kleine Vogel nicht selbstständig aufbrechen kann. Als Dank für seine Führerdienste wird dem Vogel dann jeweils von den Jägern ein Teil der Beute zurückgelassen.

Verschiedene namhafte und von diesen Tatsachen faszinierte Wissenschaftler, so etwa Robert May und Josef Reichholf, gingen nun aber davon aus, dass der Mensch dieses kooperative Verhalten erst vor evolutionsbiologisch gesehen kurzer Zeit dem Honigdachs abgeschaut hat. An die vagen Geschichten anekdotischer Natur, wonach Honiganzeiger auch die drollig-furchtlosen Honigdachse zu den Nestern der stechlustigen Honigproduzenten führen – unter anderem erzählt von angesehenen Ornithologen wie James Chapin und Herbert Friedmann – glaubte auch schon der Zürcher Zoodirektor und Professor Heini Hediger, ein Verfechter der umstrittenen Forschungsrichtung der Tierpsychologie. In seinem populärwissenschaftlichen Buch mit dem doppelsinnigen Titel «Tiere verstehen» aus dem Jahre 1980 wollte Hediger zeigen, dass auch Tiere Bewusstsein und Seele haben. Laut Hedigers Theorie zeigt das Duo Vogel-Dachs ein eingespieltes zwischenartliches Teamverhalten, welches beiden Partnern zum Vorteil gereicht. Vom Tierpsychologen wurde dies als Beleg für das hochentwickelte Bewusstsein der beiden Akteure gewertet. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade Hediger, der immer wieder vor einer verbreiteten Wissenschaftsgläubigkeit warnte, in dieser Angelegenheit offenbar selbst Opfer seiner eigenen – ornithologischen – Autoritätsgläubigkeit wurde. Bis heute wartet man jedenfalls auf die erste glaubhaft dokumentierte Beobachtung der märchenhaften Partnerschaft Vogel-Dachs.

Das Erzählen von wissenschaftlichen Geschichten ist gerade auch im Rahmen von Ausstellungen sehr beliebt. Bis am 16. Juni 2019 offeriert focusTerra an der ETH Zürich Geschichten rund um Forschende der Zürcher Hochschulen in Form von Comic-Strips.

-> Expedition Sonnensystem

  • Johann Brandstetter & Josef H. Reichholf—«Symbiosen: Das erstaunliche Miteinander in der Natur» [ETH-Bibliothek, Bibliothek der Museumsgesellschaft]

  • Herbert Friedmann—«The Honey-Guides» [ETH-Bibliothek]

  • Thomas N. Headland (Hrsg.)—«The Tasaday Controversy: Assessing the Evidence» [Zentralbibliothek Zürich]

  • Robin Hemley—«Invented Eden: The Elusive, Disputed History of the Tasaday» [Zentralbibliothek Zürich]

  • John Nance—«Tasaday: Steinzeitmenschen im Philippinischen Regenwald» [Zentralbibliothek Zürich, Bibliothek der Museumsgesellschaft]

  • Randy Olson—«Don’t Be Such a Scientist: Talking Substance in an Age of Style» [ETH-Bibliothek]

  • Randy Olson—«Houston, We Have a Narrative: Why Science Needs Story» [ETH-Bibliothek, Zentralbibliothek Zürich]