Welches Naturmuseum braucht Zürich?
Eine Inspiration aus Amazonien
Die Universität Zürich will der Bevölkerung für 30 Millionen Franken ein neues Naturmuseum schenken. Bis ins Jahr 2021 soll dieses unter Federführung des Delegierten der Universitätsleitung für Museen und Sammlungen Professor Felix R. Althaus entwickelt und am Standort des Zoologischen Museums realisiert werden. Kernstück der zukünftigen Institution wird eine Dauerausstellung zum breiten Themenkreis Evolution und Biodiversität. Wie man ein bestehendes naturkundliches Museum erfolgreich auf Vordermann bringt? Ein vor hundert Jahren gestorbener Schweizer Naturforscher hätte da vielleicht einige Tipps.
Der Schweizer Louis Agassiz wurde in Amerika unter anderem als Museumsgründer berühmt. Über den nach dem grossen Erdbeben von 1906 gestürzten Säulenheiligen kalauerte man: «Agassiz was great in the abstract but not in the concrete!». Bild: Frank Davey.
Jede Biologin und jeder Biologe weiss, dass 1859 Charles Darwin sein Buch «On the Origin of Species» veröffentlichte und damit den Grundstein für die modernen biologischen Wissenschaften legte. «Nothing in biology makes sense except in the light of evolution» lautet denn heute auch das Mantra der Biologen.
Vier Ereignisse im Jahre 1859
Im selben Jahr als in England Darwins wegweisendes Werk zur Evolutionstheorie erschien, starb in Deutschland Alexander von Humboldt, vielleicht einer der letzten Universalgelehrten und ein wichtiger Erforscher der sogenannten Neotropis, wie man die tropische Lebenswelt der Karibik, Mittel- und Südamerikas biogeographisch bezeichnet. 1859 war aber auch das Jahr, in welchem der heute vor allem in den Vereinigten Staaten berühmte Schweizer Naturforscher Louis Agassiz in seiner Wahlheimat in Boston an der Harvard University das Museum of Comparative Zoology gründete. Er galt als erster grosser Wissenvermittler und die direkte Anschauung galt dem charismatischen Lehrer viel mehr als reines Buchwissen. Nicht primär Informationen zu einem Gegenstand soll man vermitteln sondern vielmehr Leidenschaft für die Fragen, die dieser beantworten helfen kann. Und auch wenn er sich selbst als «Homme de lettres» sah und ein begnadeter Redner war, so sei ihm doch immer die Feldarbeit im Lebensraum der Organismen das Wichtigste gewesen – sowohl in Wissenschaft wie Lehre. Und so gründete er 1873 noch kurz vor seinem Tode die Feldstation und Schule auf Penikese Island an der Küste von Massachusetts, deren Leitung dann sein nach Humboldt benannter Sohn Alexander von ihm übernahm. Aus der Station ging einige Jahre später das renommierte Marine Biological Laboratory in Woods Hole hervor.
Über das Leben und Wirken des ebenso einflussreichen wie kontroversen Agassiz – er war vehementer Gegner der Evolutionstheorie und vertrat rassistische Auffassungen – wurden bereits mehrere Biographien verfasst (siehe Auswahl unten). An Stelle dieses noch heute bekannten Naturkundlers in Nordamerika soll hier darum noch etwas eingehender auf einen anderen Landsmann und Auswanderer eingegangen werden; einen Wissenschafter, der sich einen ähnlich legendären Status in einem südamerikanischen Land erarbeitete und der aber in seiner Heimat inzwischen leider etwas in Vergessenheit geraten ist: Emil August Göldi aus dem Toggenburg. 1859 war sein Geburtsjahr.
Die Schweizer Erben von Humboldt
Nach Studien an der Zoologischen Station Neapel und an den Universitäten in Leipzig und in Jena sowie einer Dissertation im Jahre 1883 beim frühen Darwinisten Ernst Haeckel wurde Göldi 1885 als Vizedirektor und Professor nach Brasilien an das Nationalmuseum in der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro berufen. Er entsprach offenbar dem germanischen Stereotyp: Diszipliniert und pedantisch sei er gewesen. Damit sollten in der Neotropis während vielen Jahren gleich drei wichtige Schweizer Naturforscher tätig sein, was verschiedentlich als Schweizer Dreigestirn der naturkundlichen Lateinamerika-Forschung bezeichnet wurde. Neben dem Deutschschweizer Göldi in Brasilien waren dies der Waadtländer Henri Pittier (1857–1950) zuerst in Costa Rica und später in Venezuela, sowie der Tessiner Mosè Bertoni (1857–1929) in Paraguay. Alle drei waren geborene Abenteurer. Alle drei waren ausgebildete Biologen. Alle drei wurden in ihren Ländern berühmte Pioniere. Begegnet sind sie sich nie.
Emil Göldi wurde offenbar stark durch den damaligen Kaiser Peter II., einem Freund der Wissenschaften und des Fortschrittes, gefördert. Nach dessen Sturz beim Putsch von 1889 wurde Göldis Anstellung aber beendet, und er zog sich auf ein Gut seines wohlhabenden Schwiegervaters im Orgelgebirge, der Serra dos Orgãos, im Hinterland der Hauptstadt zurück. Seine Versuche als Plantagenleiter waren aber nicht von bleibendem Erfolg gekrönt, und er sehnte sich zurück in die Welt der Naturwissenschaft. Im Jahre 1894 ging dann dieser Wunsch in Erfüllung. Er erhielt die Gelegenheit ein 1866 gegründetes Museum der Naturkunde am Amazonas zu reorganisieren. So wurde Göldi zum Direktor des Museu Paraense in der Stadt Belém – zu Deutsch Bethlehem von Pará – ernannt. Dieser Hafen, östlich der Mündung des Amazonasstroms gelegen, gegenüber der Ilha de Marajó, einer Insel von der Grösse der Schweiz mitten im Mündungsdelta, war zu dieser Zeit bereits das Tor zu Amazonien.
«Tristes Tropiques»
Die Stadt wurde Finanzzentrum und Handelshafen während der wilden, gesetzlosen Jahrzehnte des Kautschuk-Booms. Und es begann nun eine Periode, in welchem Belém und insbesondere sein Museum auch zum Zentrum einer intensiven Erforschung des ganzen Amazonasbeckens wurde. Einige Jahrzehnte zuvor passierte bereits das englische Triumvirat der frühen Amazonas-Erkundung – Richard Spruce, Alfred Russel Wallace und Henry Walter Bates – die damals noch verschlafene Provinzstadt zu Beginn ihrer legendären Reisen in das riesige Flusssystem. Ihre später publizierten populären Reiseberichte sollten Amazonien als das Eldorado in den Köpfen aller angehender Naturforscher einprägen. Doch das Leben und die Arbeit in den Tropen war sowohl Paradies als auch Hölle. Die florierenden Städte am Fluss bauten auf dem Reichtum, der duch indigene Sklaven erarbeitet wurde, wie erst das Enthüllungsbuch aus dem Jahr 1913 «Putumayo: The Devil’s Paradise» von Walter Hardenburg der Weltöffentlichkeit vor Augen führte. Und auch die Tropenkrankheiten forderten ihren Tribut. Das wissenschaftlich darum vielleicht wichtigste Werk Göldis war seine Arbeit über die Stechmücken Amazoniens (siehe Digitalisat unten). So gelang es ihm, den Vektor für das gefürchtete, epidemisch auftretende Gelbfieber zu eruieren, detailliert zu beschreiben und abzubilden. Die Art Aedes (Stegomyia) aegypti ist ausserdem Überträger des Dengue- und Zika-Virus und auch heute noch von grösster Bedeutung.
Ganz ähnlich wie bei Henri Pittier und wie insbesondere auch bei Mosè Bertoni, der die Guaraní in Paraguay erforschte und sich für ihre Rechte einsetzte, war auch bei Göldi ein Interesse für die indigene Bevölkerung und deren Kultur und Sprache offenkundig. Und auf dem botanischen Gebiet wurde der Zoologe kongenial durch seinen Landsmann Jacques Huber (1867–1914) ergänzt. Dieser übernahm nach der endgültigen Rückkehr Göldis in die Schweiz 1907 die Leitung des Museums und hatte diese bis zu seinem frühen Tode als erst 46-Jähriger inne. Göldi seinerseits wird 1908 Professor in Bern und sein gesamtes Lebenswerk zeichnet sich, wie dies Vinzenz Ziswiler auf den Punkt brachte, sowohl durch Vielfalt wie auch Originalität aus. Vor 100 Jahren stirbt Göldi schliesslich 1917 in Bern – drei Jahre zuvor war in Zürich das von Arnold Lang, einem weiteren Schweizer Haeckel-Schüler konzipierte Zoologische Museum durch seinen ersten Direktor Karl Hescheler und den Konservator Otto Stoll eröffnet worden. Unterdessen feiert das Museum am Amazonas heuer bereits seinen 150. Geburtstag. Es heisst inzwischen längst «Museu Paraense Emílio Goeldi».
Die sieben Eigenschaften eines erfolgreichen Naturmuseums
Die heutigen multimedialen Bespielungsmöglichkeiten lassen einen Vergleich zu den Museumswelten im 19. Jahrhundert nur bedingt sinnvoll erscheinen. Wollte man aber trotzdem das Erfolgsrezept von Agassiz in Nordamerika und Göldi in Südamerika destillieren, so erhielte man vielleicht die folgenden zeitlosen Ingredienzien für relevante, instruktive und beliebte Naturmuseen in Boston, Belém und anderswo…
- Aktive Feldarbeit vor Ort unter Einbindung der einheimischen Bevölkerung, insbesondere von Schülern und Studierenden.
- Herausgabe eigener wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Publikationsreihen mit unterschiedlichem Zielpublikum.
- Lokale Kollaborationen mit Forschern aus sich ergänzenden Fachgebieten.
- Weltweiter Austausch mit Kuratoren und Beteiligung an internationalen Netzwerken.
- Beratungstätigkeit zur Bekämpfung schädlicher oder invasiver Arten und zur Nutzung natürlicher Ressourcen – sowie selbstverständlich im Naturschutz.
- Integration und Koordination von öffentlichem Museum, wissenschaftlichen Sammlungen und einer Forschungsstation, die sich idealerweise in einem Schutzgebiet befindet.
- Und bestimmt am wichtigsten: Das Museum soll die beste Cafeteria weit und breit beherbergen!
Amazonas
- Hemming, J. (2008) Tree of rivers: the story of the Amazon. Thames & Hudson. [Zentralbibliothek, Freihand 02, HR 4485]
- Hemming, J. (2015) Naturalists in paradise: Wallace, Bates and Spruce in the Amazon. Thames & Hudson. [Zentralbibliothek, Freihand 02, HT 5787]
Louis Agassiz
- Higgins Gladfelter, E. (2002) Agassiz’s legacy: scientists’ reflection on the value of field experience. Oxford University Press. [Zentralbibliothek, Freihand 03, GS 35047]
- Irmscher, C. (2013) Louis Agassiz: creator of American science. Houghton Mifflin Harcourt. [Zentralbibliothek, Freihand 02, HP 5016]
- Lurie, E. (1960) Louis Agassiz: a life in science. University of Chicago Press. [Zentralbibliothek, Freihand 04, FP 30138]
Henri Pittier
- Häsler, B. & Baumann, T. W. (2000) Henri Pittier: Leben und Werk eines Schweizer Naturforschers in den Neotropen. Friedrich Reinhardt. [Zentralbibliothek, Freihand 03, GP 1154]
Mosè Bertoni
- Baratti, D. & Candolfi, P. (1996) L’arca di Mosè: biografia epistolare di Mosè Bertoni. Casagrande. [Zentralbibliothek, Freihand 03, GU 3604]
- Medienmitteilung der Universität Zürich.
- Sanjad, N. & Güntert, M. (2015) Emil August Göldi: a life between Switzerland and Brazil. Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern.
- Steiner, J. (2017) Plötzlich liegt Bern im Amazonasgebiet. Berner Zeitung.
- Zabel, M. (2012) Humboldts Erben. Neue Zürcher Zeitung.
- Schweizer Fernsehen – Henri Pittier, der Schweizer Humboldt, 07:24.
- Webseite des «Museum of Comparative Zoology».
- Webseite der «Fundación Moisés Bertoni».
- Webseite zum «Parque Nacional Henri Pittier».
- Webseite des «Museu Paraense Emílio Goeldi».